"... die Entdeckung des eigenen selbstgenügsamen Wesens, das sich im Gestalteten wiederfinden möchte ..."
Vor über 30 Jahren ging Heinrich Engelmann in die Einsiedelei. In der Nähe Dortmunds, auf einem 9.000 Quadratmeter großen,
verborgenen Grundstück bewohnte der ehemalige Hochschullehrer seine winzige Hütte. »Das ist meine Heimat«, sagte er, »wenn ich weggehe, empfinde ich das wie einen Verrat.«
Zu beweisen, dass man beim Wohnen mit sehr wenig Raum auskommen kann, ist für Architekten schon lange eine Herausforderung. Einfacher leben! Dieser Wunsch hat immer wieder Menschen bewogen, einen anderen Lebensrhythmus für sich zu finden.
Als Heinrich Engelmann mit Anfang 40 aus der Stadt flüchtete, da wollte er weg von einem Ort, »an dem die Qualitäten nicht mehr herzustellen sind die ich erwarte: Natur um mich herum. So würde auch ein Tier flüchten, wenn man ihm nur Asphaltflächen bieten würde. Rehe«, fügte er damals noch hinzu, »Rehe würden sich nie in der Stadt aufhalten.«
Als Engelmann damals das Stück Land im Verlauf eines Tales und umgeben von einem alten Steinbruch erwarb, war es noch mit Waldbäumen bestanden und einer Obstwiese, die er dann auf Wildnis umstellte. »Ich wollte«, blickte er zurück, »möglichst viel Natur um mich herum haben und möglichst viel an die Natur zurückgeben.«
Naturnahes Leben als Gegenentwurf zur modernen Industriegesellschaft.
Im Einklang mit der Welt leben, das war dem Einsiedler wohl gelungen. Sofort fiel damals die Ruhe auf, die von diesem Mann ausging. Was ihm Heimat bedeutete, fragten wir. »Der Ort, an dem man lebt, als Ort der ästhetischen Verantwortung« sagte er. In jungen Jahren hat Heinrich Engelmann die Privatschule für freie Kunst und die Werkkunstschule besucht, die er mit einem Examen für freie und angewandte Grafik verließ. Vermutlich wurden hier bereits seine ästhetischen Vorstellungen geprägt, sich am Einfachen zu orientieren.
So schwärmte er von einem Erlebnis im Winter: »Ich saß in meinem Hüttchen und hatte eben den Herd angemacht, am Ofen war es warm und angenehm und draußen sah ich eine schneebedeckte Landschaft.
Das Wissen von Kälte, der Sonnenschein, das sinnliche Wahrnehmen dessen, wessen man sich beraubt, wenn man den Vorhang zuzieht…«
Längst hatte die wilde Natur die Oberhand gewonnen, in die der Einsiedler sein Domizil, ein zehn Quadratmeter großes, solides Haus platziert hatte. Die Grundmauern waren Überreste eines alten Schießstandes. An der südlichen Stirnseite im Innern brachte er eine Schrankwand an, ein Arbeits- und Essplatz mit Klapptisch war einziges Mobiliar neben dem Herd im Kachelofen-Heizprinzip. Eine schwenkbare Leiter führte hinauf zur Schlafkammer mit Giebelfenster im Dachraum, der mit einer Sägemehlschüttung gedämmt war.
Unter dem Vordach hingen handgeflochtene Vorratskörbe, gefüllt mit den Gaben, die die Natur je nach Jahreszeit zu bieten hatte.
Ein gläserner Giebel gab den Blick frei auf ein üppiges Biotop voller Schilf und Froschbiss, Tausendblatt und Teichrosen, Krebsschere und Igelkolben. Im gemauerten Ofen prasselten bei Kälte glühende Scheite. Und wenn der Mond sich dann zu nächtlicher Stunde in der glänzenden Teichoberfläche spiegelt, dann ist der Mensch frei für die Reize der Natur.
Als Engelmann das Grundstück 1970 erstmals in Augenschein nahm, da war die Autobahn Dortmund-Kassel noch nicht ihrer Bestimmung übergeben. Das kam erst 1971. Ob ihn heute der Betrieb störe, fragten wir damals. »Das Grundstück ist so schön, dass diese kleine Störung nur marginal ist. Es zeigt, dass optische Dinge die Akustik überwiegen. Manchmal wäre es mir natürlich lieber, wenn der Krach nicht da wäre. Aber das ist nun mal meine Heimat hier.«
Meinungszurücknahme, das erfuhr Heinrich Engelmann in all den hinter ihm liegenden Jahren »ist letztlich die Entdeckung des eigenen selbstgenügsamen Wesens, das sich im Gestalteten wiederfinden möchte. Architektur wird zur gestalterischen Würdigung des Einfachen und Ursprünglichen.« So errichtete sich der Einsiedler vor seiner Hütte eine Wasserentnahmestelle. Hier wurde allmorgendlich geduscht. Kalt bis eiskalt. Immer. Auch im tiefsten Winter. Im Schuppen wenige Schritte weiter hatte er sich ein Klo mit einem Dach – »man sitzt im Trockenen« – samt Donnerbalken gezimmert. Daneben lag der Komposthaufen. Die Dinge gehören schließlich zusammen.
Der Tagesablauf bestand im Wesentlichen aus Meditation, Arbeit am und im Haus, Essen, Lesen, Schreiben.
Welche Chancen bietet der Mangel, der Verzicht auf Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik ebenso wie auf eine Toilette mit Wasserspülung, Kühlschrank, Waschmaschine? »Ich sehe, dass der Mangel ungeheure ästhetische Möglichkeiten in sich birgt«, erklärte Heinrich Engelmann. So sei seine Küche beispielsweise kein »Funktionensammelsurium, sondern das leer geräumte Passepartout für den Herd als permanentem Hinweis auf den möglichen Mangel an Wärme und Essen«, so Engelmann damals. Das Wasser, sagte er, ist kein Bedarfsartikel unter anderen. Der noch so gut gestylte Wasserhahn ein Indiz des Vergessens. Wasser komme aus der Erde, aus der Quelle, aus dem Bach. »Was mich betrifft«, sagte der Einsiedler, »so erfahre ich durch die Säuberung der Wohnung von Fernseher, elektrischen Großgeräten und Telefon einen geradezu kulinarischen Triumph über die Aufschwatzer.
Die Singdrossel wird zum Beweis eines kostenlosen Lebens.«
Dass der Mensch der Natur bedarf, das zeigt die anhaltende Flucht der Städter aufs Land. Dort aber, kritisierte Heinrich Engelmann, »landen die Menschen in Schrumpfvillen, in 300 Quadratmeter großen Käfigen und treten sich auf die Füße mit ihrem Geschmack.«
Den Denkfehler machte er im »falsch verstandenen Individualismus« aus. Gestalterische Grundlagen seien nicht gegeben.
»Es gibt Archetypen des Gestaltens«, zeigte Engelmann auf, »und es geht darum, solche Dinge für alle zu entdecken.«
Sein Haus als Archetyp? »Ich denke in die Richtung. Ich sehe allerdings noch Fehler, die sind verbesserbar.«
Das Eingeständnis, dass die moderne Architektur an der Verdrängung naturhafter Anteile leidet, dass sie sich des Alten schämt, könnte der Architektur ungeahnte neue, sprich alte Möglichkeiten eröffnen.
Heinrich Engelmann arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2014 daran.
Fotos: Nicolai Druben
Text: Ilka Heiner